Donnerstag, 19. April 2007
Auf die Fresse - aufs Handy
Am 19. April 2007 im Topic 'Deutschland'
Natascha ist tot. Sie hat sich umgebracht, weil sie die Quälerei und die Schläge von den Mitschülern in einer Schule im sibirischen Tjumen nicht mehr aushielt. Für die war es ein besonderer Kick, die Erniedrigungen, die sie dem Mädchen zufügten, mit der Handykamera aufzunehmen und dem Mädchen und Mitschülern später zu zeigen.

So etwas macht in Russland gerade Schule. Der „Entwicklungsabstand“ zum Westen beträgt einige Jahre. Aber nun ist es soweit. Tjumen, Moskau oder andere Städte - die Schauplätze, an denen die Verrohung der Jugendlichen aktenkundig wird, werden immer zahlreicher.


Schulen sind die „Drehorte“ der „Amateurfilmer“

Geprügelt haben sich die Heranwachsenden schon immer, und die Russen waren nicht zimperlich, wenn „hingelangt“ wurde. Sadistische Gruppenquälereien und das Abbilden derselben mit dem Ziel, später das Opfer noch einmal zu demütigen, abermals zu „genießen“, wie man jemanden gequält hat, oder vor anderen damit zu prahlen, ist neu in Russland.

Im russischen Kino und vor allem im Fernsehen und im Internet gibt es zwar Filme, in denen Gewalt gezeigt und verherrlicht wird - viele davon „made in US“ - wie Sand am Meer. Aber das reicht offenbar nicht aus. Kinder und Jugendliche, die befragt wurden, gaben an, sie hätten, was sie in Filmen zuvor gesehen hatten, unbedingt selbst erleben wollen. Als Täter natürlich.

Schulen sind die „Drehorte“ der gewalttätigen jugendlichen „Amateurfilmer“, aber auch nächtliche Straßen, wenn Obdachlose (Bomschy) die Opfer sind. Ein moralisches Korsett fehlt, Maßstäbe sind verrutscht. Die Hemmschwelle wird niedriger. Untersuchungen zeigen, dass etwa sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen bereit sind, bei Gewaltaktionen der erwähnten Art mitzumachen. Bisweilen dienen die Videoaufnahmen von den Schlägereien oder Quälereien auch als Nachweis, dass einer grausam genug ist, um in eine Gruppe von gleichgesinnten Übeltätern aufgenommen zu werden.


Eigenproduktionen gewinnbringend vermarkten

Der Trend zum selbstgemachten Gewaltclip oder Gewaltvideo ist nicht einmal dadurch aufzuhalten, dass Gewaltvideos zu Beweisstücken werden können. In einem bekanntgewordenen Fall halfen die selbstgemachten Filmaufnahmen von einem Mord, die Täter zu überführen.

Vier Jugendliche prügelten vor einigen Monaten in der Ortschaft Rybinsk einen Mann zu Tode und filmten sich dabei gegenseitig. Die Aufnahmen fielen den Ermittlern in die Hände und wurden den Mördern zum Verhängnis. Jugendliche Schläger sind mittlerweile aber auch auf den Gedanken verfallen, ihre Eigenproduktionen gewinnbringend zu vermarkten. Sie stellen sie ins Internet oder verkaufen sie an Händler. Abnehmer gibt es offenbar genug. Eine russische Zeitung fand jetzt heraus, dass man die Amateuraufnahmen von Gewaltszenen auf Nachfrage als DVD auf Moskauer Märkten kaufen kann.


Psychologen sind einigermaßen ratlos

Für Lehrer, die auch selbst der Gewalt von Schülern ausgesetzt sind, ist es nicht einfach, etwas gegen die Verrohung an den Schulen zu unternehmen. Einige haben in ihrer Not in die Bücherkiste gegriffen und in den Werken des sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko Rat gesucht. Eine der zeitgenössischen Pädagoginnen, die sich von Makarenko hat inspirieren lassen, ließ die Schüler einen Kreis um einen aggressiven Mitschüler aus den unteren Klassen bilden und diesen anspucken.

Man habe ihm zeigen müssen, dass es sich nicht lohne, sich gegen das Kollektiv - der Anständigen - zu stellen. Vielleicht hat der Beelzebub in diesem Fall gegen den Teufel geholfen. Aber als Modell für den Kampf gegen Verrohung an der Schule eignet sich dieses Vorgehen sicher nicht. Psychologen sind einigermaßen ratlos.

Quelle: FAZ


Dazu meint die Ökozialdemokröte:

Das schlimme daran ist, das dies auch in Deutschland schon länger zum "Trend" gehört und nur ein Indiz von vielen des allgemeinen Verfalls moralischer Werte ist. Die Verrohung der Jugend ist ein gefährlicher, sozialer Brennpunkt, der unsere Gesellschaft noch viel Nerven, Geld und Leben kosten wird. Dabei ist das Problem an sich schnell ausgemacht. Wer sich nicht intensiv um eine soziale und politische Bildung des gesellschaftlichen Nachwuchses kümmert und das lieber überforderten Eltern überlässt, muss sich nicht wundern, wenn der Bumerang eines Tages zurückkommt.

Das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft ist ein sehr kompliziertes und sensibles Gebilde, dass, wenn es erstmal eine derartige Eigendynamik entwickelt, schnell außer Kontrolle geraten kann. Ich finde es verantwortungslos, wie wenig sich der Staat um funktionierende Familien kümmert. Eltern zu sein, war selten schwieriger. Die geistige Insolvenz vieler Schichten und die daraus resultierenden moralischen und sozialen Defizite, sind eine Ursache der zunehmenden Brutalität unter Jugendlichen und Kindern. Eine andere ist die systematische Verdummung durch die Medien. Wobei auch hier anscheinend Nachfrage das Angebot bestimmt. Wer sich allerdings mal objektiv das seit Jahren gleiche Mittags- und Nachmittagsprogramm im TV anschaut, dürfte merken, wie sein Hirn langsam durch den Fleischwolf gedreht wird. Und wer hat Zeit sich das um diese Uhrzeit anzuschauen? Kinder und halbtags arbeitende Mütter. Wenn sie überhaupt da sind. Oft wird die Erziehung der Kinder ja gänzlich dem Medium TV überlassen. Schlimm.

Das auch eine Idealistin, wie Ursula von der Leyen dort nicht viel bewegen kann ist schade. Doch die Wurzeln dieser Entwicklung liegen Jahrzehnte zurück. Ich würde soweit gehen zu sagen, dass es schon 1968 begann. Dort wo vermeintlich neue Werte zu Grundsätzen der "modernen" Erziehung hochstilisiert wurden. Dieser Anstoss zusammen mit einer jahrzehntelangen familienfeindlichen Politik seitens der CDU in den 80ern und 90ern, dürfte einen großen Teil des Resultates ausmachen. Naja, was solls. Ich muss weg. Gleich fängt "Richter Alexander Holdt" an.

Permalink (0 Kommentare)   Kommentieren

 
... ältere Einträge